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Zusammenfassung

Eine der vielen ungelösten Herausforderungen auf dem Gebiet der implantologischen Therapie ist unser Verständnis der exakten Rolle der Okklusion bei klinischen Erfolgen und klinischem Versagen. In diesem Artikel wird die Okklusion als ein biomechanischer Faktor betrachtet, der von unseren klinischen Entscheidungen und Maßnahmen bei der Planung implantatgetragener Restaurationen, dem Setzen der Implantate und deren Restaurationen beeinflusst wird. Betrachtet man, wie sich die Entscheidungen der Ärzte auf Okklusionskräfte und deren Übertragung auf die Prothetik, Komponenten, Implantate und Knochen auswirkt, wird schnell deutlich, dass physiologische und pathologische Kräfte verstärkt werden können, welche diese Elemente schädigen und sich auf den Implantaterfolg auswirken. Die Identifikation von Faktoren, welche die Gefährdung der erfolgreichen Osseointegration durch okklusale Krafteinwirkungen verstärken, und deren Abschwächung durch sorgfältige Planung und Entscheidungsfindung ist der wichtigste verfügbare Ansatz, um die möglichen negativen Einflüsse der Okklusion auf den Erfolg der implantologischen Therapie zu umgehen.

Einleitung

Die Okklusion hat signifikante Auswirkungen auf das Implantatergebnis. Wir wissen um diesen Umstand, nehmen ihn wahr, verstehen ihn aber nur unzureichend. Ein Konzept, wonach Okklusionskräfte das Ergebnis der implantologischen Therapie beeinflussen, könnte Annahmen infrage stellen, die auf unserem Verständnis der Stabilität fest ankylosierter Zähne beruhen. Hinzu kommt, dass der Effekt der Okklusionskräfte auf das Parodont eine nur geringe Orientierungshilfe für osseointegrierte Implantate ist, da die Zähne indirekt und über ein Interface aus faserigem Bindegewebe im Knochen verankert sind. Die Gruppen um Polsen und Lindhe zeigten in Tierstudien, dass Okklusionskräfte in Abwesenheit von Plaque und Entzündung nicht zum Attachmentverlust führten (Review in Harrel 2023). Trotz dieser Erfahrungen und Experimente bestand und besteht noch immer Unklarheit darüber, wie der Beitrag der Okklusion von Implantaten und vor allem ihre okklusale Überbelastung bei Implantatversagen und Knochenverlust betrachtet werden sollten: als primär, sekundär oder irrelevant. In diesem Artikel werden aktuelle Überlegungen zur Bedeutung der Okklusion für den Implantaterfolg vorgestellt. Außerdem wird dargelegt, welche klinischen Faktoren die okklusalen Belastungen des Implantat-Knochen-Kontakts, des Interfaces der Implantatkomponenten und der implantatgetragenen/-retinierten Prothetik beeinflussen.

Heute gehen wir davon aus, dass der Erhalt des periimplantären Knochens von mindestens zwei Faktoren kontrolliert wird: biomechanischen Kräften, die über das Implantat auf den umliegenden Knochen übertragen werden, und eine umgebende Entzündung, die sich auf die Osteoklastogenese am Gewebe-Implantat-Kontakt auswirkt (und die Osteogenese beeinträchtigt). Die Entzündung ist beim Auf- und Umbau von Knochen eine wichtige Determinante der Zellfunktion, deren Betrachtung jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Brunski unterstrich bereits früh in der Entwicklung der enossären, schraubenförmigen Implantate die Bedeutung der Biomechanik für das Implantatdesign und benannte drei maßgebliche Faktoren: 1) die Art der Beißkraft, 2) die Übertragung von Beißkräften auf die Kontaktgewebe und 3) die Reaktion der Kontaktgewebe auf die Spannungsübertragung (Brunski 1988; Brunski 1992). Art und Übertragung der Beißkräfte auf die Kontaktgewebe können die Knochenbildung und den Knochenauf- und -umbau am Implantat-Gewebe-Kontakt begünstigen oder stören.

Die Knochenreaktion mit Knochenbildung und -resorption auf einwirkende okklusale Kräfte wurde durch das Gesetz von Wolff konzeptualisiert. Dieses Gesetz stellt fest, dass sich Knochen als Reaktion auf mechanische Belastungen auf- und umbaut, sodass seine Struktur an die Belastungen angepasst ist. An enossären Implantaten sollte es somit unter „physiologischen“ Bedingungen zum Knochenzuwachs an der Implantatoberfläche kommen und unter pathologischen Beziehungen zum Knochenabbau (Abb. 1).

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Abb. 1: Das Gesetz von Wolff postuliert, dass sich Knochen als Reaktion auf einwirkende Belastungen umbaut, die durch Stress, wie die okklusale Belastung, entstehen. Ohne Belastung kommt es zur Knochenresorption, wie es allgemein in nicht benutzten Bereichen zu beobachten ist. Bei der Überbelastung von Knochen treten Schäden im Mikrobereich auf, sofern die einwirkenden Belastungen die Belastbarkeit des Knochengewebes übersteigen. Die Folge ist eine Knochenschädigung mit Knochenresorption. Dies kann zu marginalem Knochenverlust sowie zum Verlust der Osseointegration führen. Der Arzt sollte immer überlegen, wie sich hohe Belastungen durch die Planung der Implantation und prothetischen Designs reduzieren lassen.

Im klinischen Idealfall werden die okklusalen Kräfte über die prothetische Versorgung als Belastungen idealer Größe auf den Knochen übertragen und lösen einen gesunden Knochenauf- und -umbau aus. Ein wichtiges klinisches Merkmal erfolgreicher Implantate ist der kontinuierliche gesunde Umbau des periimplantären Knochens. Diese Prozesse können bei einer Überbelastung durch die einwirkenden Kräfte gestört werden, was in Gegenwart einer Entzündung zum periimplantären Knochenverlust führt. Schon eine extreme Überbelastung an sich kann zu Mikrofrakturen im Knochen mit Knochenverlust und Implantatversagen führen. Das klinische Bild ist komplexer und umfasst zahlreiche Faktoren (Tab. 1). Zur implantologischen Therapie gehören neben der Planung chirurgische und restaurative Interventionen, die das Risiko der mechanischen Überbelastung reduzieren.

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Tabelle 1: Die Implantattherapie beeinflussende biomechanische Faktoren

Die mechanische Schädigung des periimplantären Knochens hängt von der Art der Okklusionskräfte ab, die über die Prothetik und das Implantat auf den umgebenden Knochen übertragen werden. Die gemessenen Okklusionskräfte liegen bei 100–400 N. Sie nehmen vom Front- zum Seitenzahnbereich hin zu und können unter bestimmten Umständen überschritten werden. In experimentellen Modellen wurde gezeigt, dass physiologische Kräfte in der Regel gut toleriert werden, während exzessive Kräfte die Belastungen am Implantat-Abutment- und Implantat-Knochen-Kontakt erhöhen (z. B. Borges Radaelli et al. 2018). In der Finite-Element-Analyse führte die laterale Belastung von Implantaten zu einer stärkeren Belastung am Implantat-Knochen-Kontakt (Lin et al. 2010). Interessanterweise zeigte eine Finite-Element-Analyse, dass die Belastung, die durch eine auf Implantate einwirkende Kraft von 100 N im Knochen erzeugt wird, um ein Vielfaches größer ist als bei genauso stark belasteten Zähnen (Robinson et al. 2019). Die Weiterleitung dieser Kräfte über den Implantat-Abutment-Komplex wird von den zuvor genannten Faktoren beeinflusst (Tab. 1) und ist hochrelevant für die Schaffung einer für den Implantaterfolg „idealen“ biomechanischen Umgebung.

Vor diesem Hintergrund würden wir erwarten, dass viele klinische Situationen Implantate für ein Versagen durch Überbelastung prädisponieren. Trotzdem konnte in zahlreichen Studien nicht belegt werden, dass dies sehr häufig geschieht, und gibt es nur wenige Daten, die einen Kausalzusammenhang zwischen okklusaler Belastung und klinischem Implantatversagen stützen (Isidor 2006; Chang et al. 2013; Naert 2012). In präklinischen Studien wurde nachgewiesen, dass Belastungen tatsächlich die Anlagerung von Knochen an die Implantatoberfläche begünstigen (z. B. Heitz-Mayfield et al. 2004; Lima et al. 2019). Umgekehrt wurde gezeigt, dass eine übermäßige laterale Belastung von osseointegrierten Implantaten eine Knochenresorption induziert (Piccinini et al. 2016; Ferrari et al. 2015) und eine nicht axiale Überbelastung ein besonderer Risikofaktor der Osseointegration ist. In einem Primatenmodell mit einer zusätzlich störenden Umgebung (Plaqueakkumulation und Überbelastung) kam es zu Knochenverlust und Implantatversagen (Isidor 1997). Die experimentelle nicht axiale Überbelastung und die biofilmbedingte Entzündung, die zum Implantatverlust führen, spiegeln häufige klinische Situationen wider, die dem Arzt zur Warnung gereichen sollten, wenn er mit Implantaten reproduzierbare Erfolge erzielen will.

Zudem gibt es klinische Evidenz für den Erhalt der Osseointegration bei hoher okklusaler Belastung. Ein Beispiel für eine robuste Osseointegration ist die Verwendung ultrakurzer Implantate, sofern diese in eine gesunde Umgebung gesetzt werden. Die Verwendung verblockter, 4 mm langer Implantate war beim Einzelzahnersatz und beim Ersatz mehrerer Zähne im unteren Seitenzahnbereich über einen Zeitraum von drei Jahren erfolgreich (Leighton et al. 2022). Systematische Reviews haben den Einsatz kurzer Implantate bei Restaurationen im Seitenzahnbereich (ausgehend von höheren okklusalen Kräften) unterstützt (Carosi 2021). Die klinische Erfahrung mit kurzen Implantaten kann aber Hinweise auf eine längerfristige okklusale Überbelastung sowie auf biologische Umgebungen liefern, die einen effektiven Knochenumbau stören (z. B. Entzündungen bei Diabetes mellitus, Osteoporose usw.).

Die hohe Erfolgsrate der ursprünglichen osseointegrierten Prothetik der Marke Brånemark berief sich auf signifikant distal gesetzte Freiendglieder und war mit einer hohen Überlebensrate von Implantat und Prothetik assoziiert (Adell et al. 1981). Zu den in der klinischen Praxis beobachteten Beispielen jedoch gehört der durch Überbelastung hervorgerufene Verlust der am weitesten distal gesetzten Implantate, die festsitzende Freiendglieder tragen (Abb. 2). Misch kam zu dem Schluss, dass das Spätversagen meistens auf eine Überbelastung zurückzuführen ist (Misch 2022). An dieser Stelle wird vorgeschlagen, dass den wichtigsten okklusalen Risiken für die Osseointegration durch eine sorgfältige Evaluation und Planung der implantologischen Therapie begegnet werden kann.

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Abb. 2: Bei einer über 5–10 Jahre erfolgreichen Behandlung versagte das am weitesten distal gesetzte Implantat des Patienten und wurde entfernt, wodurch die ansonsten erfolgreiche Prothetik entfernt werden musste. Dies belegt die Überbelastung terminaler Implantate durch Freiendglieder, die an terminalen Implantaten starke Biegemomente erzeugen.